24.06.2025

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Alt und doch jung: Taipehs Rotes Haus

01.11.2009
Das 1908 gebaute Rote Haus war Taiwans erster „Modellmarkt“. Das obige Bild aus dem Jahr 1920 zeigt den beliebten Marktplatz, der mit Handel und Unterhaltung viele Besucher anlockte. (Foto: Foto-Reproduktion mit Erlaubnis von Taipei Culture Foundation)
Der Wohlklang der L’Hymne à l’Amour, gesungen von der französischen Chanson-Diva Edith Piaf, perlt im Hintergrund, in der Luft wabert der Duft starken Kaffees, und durch die Fenster dringt gedämpftes Sonnenlicht. Es herrscht ein entspanntes Gefühl vergangener Zeiten im Foyer des Roten Hauses (紅樓), wo Kunden auf den altmodischen Sofas des Cafés im Erdgeschoss sitzen, durch eine Sonderausstellung im zentralen Ausstellungsbereich schlendern oder sich Souvenirs im Andenkenladen aussuchen. Die Besucher scheinen sich wohl dabei zu fühlen, den ganzen Nachmittag in dieser anheimelnden und ruhigen Atmosphäre zu verbringen.

Ohne Zweifel ist das großartige Rote Haus in Taipeh eines der unvergleichlichen Zentren für darstellende Kunst der Stadt im Bezirk Ximending (西門町), einem Viertel, das für Jugendkultur und einzigartige Straßenmode bekannt ist. In der Vergangenheit diente der Bau als traditionelle Markthalle, als Schauspielhaus und als Kino, doch bei einem Brand im Jahr 2000 wurde das Gebäude so stark beschädigt, dass jetzt nur noch die Hauptgebäude des ursprünglichen Marktes stehen. Heute ist das Rote Haus ein multifunktionales Schauspielhaus und eine Unterhaltungsstätte, wo man die alten Zeiten Taipehs und die Avantgarde der Stadt gleichermaßen erleben kann.

1896 war der Ort, wo später das legendäre Rote Haus entstand, lediglich ein schlichter Markt aus Holz. Das Rote Haus selbst, ein zweistöckiges achteckiges Gebäude im westlichen Stil, wurde 1908 vom japanischen Architekten Kondo Juro (近藤十郎) während der japanischen Kolonialzeit (1895-1945) gebaut, und an den achteckigen Hauptbau schloss sich hinten ein kreuzförmiger Trakt an. Zusätzlich zu den auffälligen roten Ziegelmauern und den mit Stahl verstärkten Raumdecken besitzt das Dach des Hauptgebäudes einen Rahmen aus Stahlträgern und ist fächerförmig wie ein Regenschirm gestaltet.

Dass das Marktgebäude eine achteckige Bagua-Form erhielt, galt zu der Zeit, als es errichtet wurde, als kreative Kühnheit, selbst heute ist diese Form sehr selten. Die „Bagua“ (八卦), zu Deutsch „acht Trigramme“, sind eine Gruppe von Symbolen, die in einem Achteck angeordnet sind und sowohl von den Taoisten als auch bei der Praxis der Geomantik (fengshui風水) angewandt werden, weil man sich davon ein glücklicheres Schicksal verspricht.

Heute ist das Gebäude ein bedeutender, einzigartiger Schauplatz für Kunst und Kultur in Taipeh. (Foto: Chang Su-ching)

Gute Zeiten, schlechte Zeiten

In jenen frühen Jahren lockte der Markt im Roten Haus große Besucherzahlen sowohl mit Handel als auch mit Unterhaltung an. Händler verkauften Blumen, Bücher, Medikamente, japanische Konserven und örtliche taiwanische Erzeugnisse. Besonders zu Feiertagen war es ein Treffpunkt für Bewohner der umliegenden Bezirke, denn es war der einzige Markt der Gegend, in dem man eine große Auswahl trockener Produkte bekommen konnte. Von der japanischen Verwaltung wurde er zum ersten „Modellmarkt“ Taiwans erklärt. Nach dem Abzug der Japaner im Jahre 1945 wurde es zu einem Geschichtenerzählhaus und diente später als Kino und als Schauplatz für traditionelle Volkskunstvorstellungen.

In den siebziger Jahren erlebte das Rote Haus einen Höhepunkt, als dort Aufführungen der Pekingoper stattfanden, außerdem xiangsheng-Shows (相聲) — eine traditionelle Form von komischer Dialogvorstellung — und Bühnenstücke, und es wurde überdies als Filmtheater genutzt. Einwanderer aus Festlandchina fanden Trost in Live-Aufführungen im traditionellen Stil, junge Leute dagegen schauten sich dort Kampfkunst-Filme an, von kommerziellen Kinos bereits aus dem Programm genommene westliche Filme und einheimische Kostümdramen. „An Wochenenden ging oft die ganze Familie zum Essen aus und dann zum Roten Haus, um für wenig Geld zwei Filme zu sehen“, erinnert sich Wang Xue-ming, der seit rund einem halben Jahrhundert in der Gegend von Ximending lebt. „Auf dem Heimweg unterhielten wir uns dann über das, was wir gesehen hatten. So brannten sich große Stars wie Grace Kelly, Gregory Peck und Audrey Hepburn in unser Gedächtnis ein.“

Nach der Stadtentwicklung im Ostteil von Taipeh und dem Aufkommen des Fernsehens erfuhr das Rote Haus jedoch einen Niedergang. Mehrere Jahre lang stand das Gebäude leer, und sein ehemaliger Ruhm schien zu dem Schicksal verdammt zu sein, eine verblassende Erinnerung zu werden.

Käufer schlendern an den 16 kreativen Boutiquen im Kreuzbau vorbei, wo viele junge Künstler ihre Arbeiten präsentieren. (Foto: Courtesy Taipei Culture Foundation)

Rettung des Toten Hauses

Glücklicherweise taten sich im Jahre 1994 mehrere Schaustellungskünstler zusammen, um die Öffentlichkeit an das Rote Haus zu erinnern, und führten dort „Traum des Roten Hauses. Eine Ximen-Romanze“ (紅樓夢。西門情) auf, wobei der Titel eine Anspielung auf einen der berühmtesten klassischen chinesischen Romane war, nämlich „Der Traum der roten Kammer“ (紅樓夢) von Cao Xueqin 曹雪芹 (1715-1763). Die Aufführungsserie umfasste auch Vorstellungen von kuaiban (快板), eine Art von rhythmischem Monolog, und es gab Bühnensketche, Volkslied-Darbietungen, traditionelle taiwanische Nakashi-Musik (那卡西) und Tanzvorstellungen.

Eine der Folgen dieser Vorstellungen war, dass sie die Aufmerksamkeit auf das Rote Haus lenkten, und 1997 erklärte die Stadtverwaltung Taipeh das Gebäude zu einer historischen Stätte der Klasse III. 2002 beteiligte sich die gemeinnützige Kunststiftung Paper Windmill Arts Foundation an der Renovierung des Roten Hauses, doch als sie sich außerstande sah, ihre Ziele für die Stätte mit dem, was sie sich tatsächlich leisten konnte, in Einklang zu bringen, beschloss die Stiftung, beim Auslaufen des Vertrages fünf Jahre später kein neues Gebot für die Verwaltung des Objekts einzureichen. Im November 2007 beauftragte die Abteilung für Kulturangelegenheiten der Stadtverwaltung Taipeh die Kulturstiftung Taipeh (Taipei Culture Foundation, TCF) damit, den Komplex des Roten Hauses komplett zu verwalten, einschließlich das achteckige Hauptgebäude, den angrenzenden Kreuzbau und die benachbarten Plätze nördlich und südlich der Zentralstruktur. Nach den Worten von Johnson Chiu, stellvertretender Generaldirektor der TCF, berücksichtigt die Stiftung bei der Verwaltung der Stätte die Vergangenheit und Gegenwart der Gegend.

Zur Zeit umfasst das Erdgeschoss des Roten Hauses ein Café und einen Geschenkladen, die Etage ist auch ein Schauplatz für Kunstausstellungen — von Juli 2008 bis Juni dieses Jahres fand dort eine Ausstellung statt, in der an den 100. Geburtstag des Roten Hauses erinnert wurde. Das erste Obergeschoss dient als Schauspielhaus, wo eine Vielzahl von Programmen stattfindet, darunter Theateraufführungen, Musikvorstellungen, Hochzeiten, Empfänge, Firmenereignisse und Cocktailpartys. „Ich habe mehrere Theateraufführungen, Bühnenstücke und Empfänge hier besucht“, erzählt die Besucherin Guey Liang-yu, die nachmittags mit ihrem Sohn und einer Freundin im Café im Erdgeschoss Waffeln knabbert, und fügt hinzu, sie wolle sich im Laufe des Sommers eine weitere Show anschauen. „Die Veranstaltungen hier enttäuschen mich nie, und ich habe immer viel Freude.“

In der Eingangshalle des Roten Hauses versammeln sich Touristen, die an einer Führung durch den Bau teilnehmen wollen. (Foto: Chang Su-ching)

Im Einklang mit den Zielen, kulturelle und kreative Gewerbe zu fördern, arbeitete die Stadtverwaltung Taipeh mit der TCF zusammen, um 2007 den Rotes Haus-Markt für Künstler und Designer einzurichten. Im Kreuzbau sind täglich Marktstände geöffnet, und an den meisten Wochenenden werden noch mehr Stände auf den angrenzenden nördlichen und südlichen Plätzen aufgestellt.

Dank der niedrigen Mieten und der hohen Bekanntheit der Gegend haben viele junge Künstler begonnen, sich im Gebäudekomplex des Roten Hauses anzusammeln. An einem beliebigen Markttag können Besucher eine große Auswahl von Kunsthandwerk-Gegenständen finden, darunter Ziernadeln, Glas, Keramik, Gemälde, T-Shirts, Halstücher, Accessoires und Skulpturen. Bislang gibt es sechzehn Kreativboutiquen im Kreuzbau und an Tagen mit Freiluftmarkt gut 60 temporäre Stände.

„Wir sind seit einem Jahr hier“, berichtet Fang Da-tung, Verkäufer in der Boutique 0416, einem Laden für T-Shirts. „Die Monatsmiete in Höhe von 15 000 NT$ (319,14 Euro) ist erschwinglich. Jedenfalls ist es ein guter Platz, um Designs von Künstlern zu zeigen. Besucher können direkt mit einheimischen oder ausländischen Künstlern kommunizieren und bestellen, was sie wollen.“

„Das Geschäft läuft nicht schlecht“, fährt Fang fort. „Viele Touristen kaufen gern hier ein, weil unsere Arbeiten keine Massenproduktion und wirklich ,Made in Taiwan‘ sind. Ich würde mal sagen, etwa 40 Prozent der Besucher hier sind ausländische Rucksacktouristen. Mit Leuten von unterschiedlichem Hintergrund oder aus anderen Kulturen Gedanken auszutauschen ist manchmal eine echte Inspirationsquelle.“

Hintergrundmusik und Erfrischungen laden Besucher des Roten Hauses ein, sich auf den altmodischen Sofas des Cafés im Erdgeschoss zu entspannen. (Foto: Chang Su-ching)

Den Künstlern helfen

TCF hilft nicht nur Künstlern, Käufer zu finden, sondern bietet auch Kurse für Marketing, Management und die rechtlichen Anforderungen für Verkäufer. „Wir hoffen, dass diese Künstler einen Markennamen aufbauen und einen Platz auf dem Markt finden können“, verkündet Lydia Lee, Fachkraft in der TCF. „Deswegen sind unsere Seminare für sie gratis. Wenn sie sehr erfolgreich werden, werden sie vermutlich von hier fortziehen, um ihr Geschäft zu entwickeln, und dann ziehen neue Künstler ein. Das ist die Art der Vitalität, die wir fördern möchten.“

Der lokale Anwohner Tai Bao-zhu lobt die Bemühungen der TCF und versichert, die Gegend sei sauberer und auch weniger chaotisch geworden, seit die Arbeit auf dem Gelände des Roten Hauses begann. „Zuerst waren wir gegen das Projekt, denn wir befürchteten, die Aktivitäten dort würden dem Viertel schaden“, bekennt Tai, der außerdem Mitglied des Förderverbandes Fußgängerzone Ximending ist, einer örtlichen Bürgerinitiative. „Jetzt sind wir bereit, bei der Förderung des Roten Hauses zu helfen, da es die kulturelle Atmosphäre der Gegend bereichert hat.“

In der Tat — vor der Restaurierung des Roten Hauses und seiner Umgebung waren nur wenige Leute geneigt, nach dem Verlassen der nahe gelegenen U-Bahnstation Ximen durch die Straßen der Gegend zu spazieren. Mittlerweile kommen an Wochenenden in- und ausländische Besucher in Scharen, um sich im Hauptgebäude umzuschauen oder durch den Bereich im Freien mit den Kunsthandwerkständen zu bummeln, wobei die Unterhaltung oft noch durch Bands und andere Schausteller einen erhöhten Reiz erhält. Abends locken am Südplatz mehrere mit Regenbogenbannern drapierte Bars und Restaurants Gäste in der Gegend, die übrigens zu einem Magneten der Schwulen- und Lesbenszene in Taipeh geworden ist.

Auf dem Platz südlich vor dem Roten Haus können Gäste der zahlreichen Bars und Cafés auch draußen sitzen. (Foto: Courtesy Taipei Culture Foundation)

Darüber hinaus beteiligt sich die TCF aktiv an der Förderung des nahe gelegenen „Ximending-Kinoparks“, einer offenen Zone, wo Besucher sich einen Platz auf bereitstehenden Holzbänken suchen oder sich auf den Boden kauern können, um sich vom Nostalgiegefühl alter taiwanischer Spielfilme erfüllen zu lassen. Die TCF hofft, genug Interesse an dem Park erregen zu können, so dass sie jeden Samstagabend Filme mit freiem Eintritt zeigen kann.

„Ximending ist seit 1900 ein Trendsetter in Taipeh“, urteilt Johnson Chiu von der TCF. „Als wir 2007 erstmals das Rote Haus übernahmen, war unsere Priorität, das Rote Haus mit der Entwicklung von Ximending in Verbindung zu bringen. Der Park ist ein ausgezeichneter Schauplatz, um Filme unter freiem Himmel zu zeigen, wird aber bis dato von nicht sehr vielen Menschen besucht. Ausgehend vom Erfolg des Roten Hauses sind wir jedoch zuversichtlich, dass wir den ,Ximending-Kinopark‘ zur nächsten Station von Besuchern machen können.“

Das Rote Haus in Taipeh hat nicht nur überlebt, sondern konnte seine ursprüngliche opulente Großartigkeit wiederherstellen. Ob für Bürger, die ihr Leben lang in Taipeh gewohnt haben, oder für Besucher, die am Wochenende herkommen, das Rote Haus bietet einen bezaubernden Blick auf den Wandel der Stadt.

„Heute, während das Rote Haus in das zweite Jahrhundert seiner Existenz eintritt, unterhält es die Menschen weiterhin mit einer entzückenden Mischung aus Konzerten, Theater, Vorstellungen, Festen, Ausstellungen und Kunstwerken“, jubelt Chiu und fügt hinzu, dass die Atmosphäre in der Eingangshalle nicht immer nur Edith Piaf und starken Kaffee umfasst. „Nächstes Mal könnten es taiwanische Lieder sein, und bei Getränken gibt es eine große Auswahl. Egal ob unter der Woche oder am Wochenende, ob tagsüber oder unterm abendlichen Sternenhimmel, das Rote Haus ist immer gut für einen Besuch.“

(Deutsch von Tilman Aretz)

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